Gibt es einen Paradigmenwechsel in der US-amerikanischen Einwanderungspolitik?
Die seit Jahren geforderte »umfassende Reform« des US-amerikanischen Einwanderungs- und Aufenthaltsrechts wird vermutlich nun doch noch eine Weile auf sich warten lassen. Vor wenigen Tagen kündigten wichtige Abgeordnete an, die in den beiden Kammern des US-Kongresses bereits verabschiedeten Gesetzesentwürfe zur verstärkten Grenzsicherung und Migrationsregulierung einer erneuten Prüfung unterziehen zu wollen. Das normale Procedere hätte vorgesehen, sich in einem Vermittlungsausschuss auf einen Kompromiss zwischen den beiden Vorlagen des Repräsentantenhauses und des Senats (H.R. 4437 und S.R. 2611) zu einigen und diesen an Präsident Bush noch in dieser Legislaturperiode zur Ratifizierung weiterzuleiten.
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Was ist passiert? Warum droht das Thema Zuwanderung in den USA, dessen Wirtschaft wie in kaum einem anderen westlichen Land auf die Arbeitskraft von Einwanderern angewiesen ist und wo selbst Erzkonservative stolz auf die Migrationsgeschichte sind, zu einer Art gesellschaftlicher Zerreißprobe zu werden? Zeigt sich in den aktuellen Auseinandersetzungen etwa ein Paradigmenwechsel, mit dem sich die USA langfristig von ihrer auf liberalen Grundhaltungen basierenden Einwanderungspolitik verabschieden werden?
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Der im Repräsentantenhaus bereits im Dezember 2005 angenommene Gesetzesentwurf H.R. 4437, der die beeindruckenden Massenproteste der letzten Monate provoziert hatte, spiegelt am deutlichsten die Tendenz in den USA und anderen Ländern wider, Einwanderungsfragen immer stärker mit Anliegen »nationaler Sicherheit« zu verknüpfen. So trägt das mehrere Hundert Seiten lange Gesetzespaket auch den Titel »Border Protection, Antiterrorism, and Illegal Immigration Control Act«. Es sieht neben der Abschaffung der Green-Card-Verlosung diverse Maßnahmen zur weiteren Aufrüstung der Grenze zu Mexiko vor.
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Nicht nur die »illegale Einreise« und der »illegale Aufenthalt« sollen unter Strafe gestellt werden, auch Ärzte, Kirchenvertreter und Mitarbeiter von karitativen Einrichtungen, die Menschen »ohne Papiere« unterstützen, würden nach diesem Gesetz mit staatlicher Verfolgung und Haftstrafen von bis zu 5 Jahren rechnen müssen. Damit geben die Gesetzgeber vor, das Land sicherer machen und Kriminalitätsraten senken zu wollen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Nöte des »Durchschnittsamerikaners« ernst zu nehmen. Vor allem in Bezug auf die Sicherheitslage ist dies eine völlig irrationale Argumentation
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Obwohl sich die im Gesetzesentwurf H.R. 4437 widerspiegelnde Verschärfung »fremdenfeindlicher« Stimmungen maßgeblich auf die Ereignisse von 9/11, die von Regierung und Medien geschürte Angst vor weiteren terroristischen Angriffen und eine allgemeine diffuse Verunsicherung zurückführen lässt, handelt es hierbei nicht um ein völlig neues Phänomen. Die Geschichte der USA ist reich an Beispielen, in denen die Bürgerrechte von »non-citizens« außen- und sicherheitspolitischen Belangen untergeordnet oder geopfert wurden. Die jahrelange Zwangsinternierung von in den USA lebenden Japanern während des Zweiten Weltkrieges, die Benachteiligung von politisch Verfolgten aus Ländern mit Militärdiktaturen gegenüber anderen Gruppen von Staatsbürgern (wie z.B. den Kubanern) zur Zeiten des Kalten Krieges und aktuell die verfassungswidrige Freiheitsberaubung und Entrechtung von ausländischen »Terrorverdächtigen« im Zuge des »Patriot Acts« sind hierfür nur die prominentesten Beispiele.
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Bislang waren Menschen ohne Einreise- oder Aufenthaltserlaubnis in den USA, die bei einem Grenzübertritt aufgegriffen oder bei Razzien von Mitarbeitern des 2003 in das Heimatschutzministerium integrierten »Immigration and Naturalization Services« (INS) im Land festgenommen worden waren, meist »nur« kurzfristig festgehalten und abgeschoben worden und konnten danach - bei entsprechenden Mitteln und Kontakten - einen erneute Einreise wagen. Da es in den USA bislang keine Meldepflicht und keine Personalausweise gibt und die lokalen Behörden (inklusive der Polizei) in der Regel auf eine Kontrolle des Aufenthaltsstatus verzichten, war es für viele der schätzungsweise 10 bis 12 Millionen »undocumented« in den USA - verglichen z.B. mit der Situation in Deutschland - daher lange Zeit wesentlich einfacher, sich mit Hilfe von Familiennetzwerken dauerhaft niederzulassen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, eine medizinische Notbehandlung zu erhalten oder - wie in zahlreichen Bundesstaaten möglich - offiziell einen Führerschein zu erwerben, der oftmals als Ausweisersatz akzeptiert wird. Diese Phase des Laisser-faire, in der die »Menschen ohne Papiere« als fleißige und billige Arbeitskräfte geduldet wurden und dafür - waren sie einmal im Lande - mit keinen größeren Schikanen und Repressalien rechnen mussten, scheint allerdings vorbei zu sein.
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Vielleicht gibt es gute Gründe, auf eine Verschiebung der Entscheidung über eine neue Migrationsgesetzgebung zu hoffen. Es ist ja nicht völlig ausgeschlossen, dass die Demokraten ab Ende des Jahres wieder über eine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügen werden. Wenn nicht, sieht es schlecht aus für die Bürgerrechte, nicht nur für die von Migranten.
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